"Die BR(i)D hat gar keine Verfassung!" - Teil 2: "Da steht nicht Verfassung drauf!"

Inhalt

Wenn man mit Leuten diskutiert, die behaupten dass Deutschland keine Vefassung habe ist das häufigste Argument der Satz

"Das Grundgesetz kann keine Verfassung sein, denn dann müsste es Verfassung heißen."

Stimmt das?

Die Zweifler verwechseln schlicht den Begriff einer Verfassung mit dem Namen des jeweiligen Dokumentes und nehmen an, dieser müsste gleichlautend sein.

Das ist in etwa so, als ob man sagen würde

Ein Buch, dass nicht "Buch" heißt ist kein Buch.

Der Begriff "Verfassung"

Um also dem Problem begegnen zu können, müssen wir uns zunächst mit dem Begriff der Verfassung auseinandersetzen.

Ein Blick in den Duden verrät uns, was eine Verfassung in politischem Sinne ist1:

a) Gesamtheit der Grundsätze, die die Form eines Staates und die Rechte und Pflichten seiner Bürger festlegen
b) festgelegte Grundordnung einer Gemeinschaft

In den Staats- und Rechtswissenschaften betrachtet man im Allgemeinen drei unterschiedliche Verfassungsbegriffe: den materiellen, formellen und realen Verfassungsbegriff. Manche Quellen fassen den materiellen und formellen Verfassunbegriff zum normativen Verfassungsbegriff zusammen.

Der materielle Verfassungsbegriff

Um den materiellen Verfassungbegriff zu erfüllen muss eine Verfassung einige Dinge regeln. Im Einzelnen sind dies die Staatsorganisation (Welche Einrichtungen muss es im Staat geben?), die Rechtsgrundlagen und das Verhältnis der Staatsorgane untereinander sowie die Bindung der Staatsorgane an die Rechtsgrundlagen.

Der formelle Verfassungsbegriff

Jedes Rechtssystem hat eine Hierarchie von Rechtsnormen. Um als Verfassung zu gelten, muss eine Rechtsnorm formal den höchsten Rang in der jeweiligen Normenhierarchie besitzen. Außerdem ist ein formales Charakteristikum einer Verfassung, dass sie schwerer zu ändern ist als einfache Gesetze.

Der reale Verfassungsbegriff

Um als Verfassung betrachtet werden zu können, muss sie auch als höchste Rechtsnorm behandelt werden. Dies bestreiten selbst die meisten Zweifler nicht im Ernst.

Erfüllt das Grundgesetz diese Verfassungsbegriffe?

Kaum überraschend: tut es.

Das Grundgesetz nennt Bundestag2, Bundesrat3, Bundespräsident4, Bundesregierung5 und Bundesverfassungsgericht6,7 als Staatsorgane. Es definiert die Grundrechte8 und nennt sie auch so. Das Verhältnis der Staatsorgane untereinander ist geregelt (u.A.9,10,11). Artikel 20 (2) bindet die Staatsorgane eindeutig an die Rechtsgrundlagen:

"Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden."
Artikel 20 (2) GG 12

Damit ist der materielle Verfassungsbegriff erfüllt.

Das Grundgesetz ist die höchste Rechtsnorm in der Normenhierarchie, ist doch die Gesetzgebung, wie oben gezeigt, an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Für eine Änderung des Grundgesetzes braucht es gemäß Artikel 79 (2) GG eine Zweidrittel-Mehrheit der Mitglieder des Bundestages als auch des Bundesrates13 und ist damit schwerer zu ändern als normale Bundesgesetze, die mit einfacher Mehrheit lediglich der abgegebenen Stimmen verabschiedet werden können14. Darüber hinaus sind die Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes die sogenannten "Unveränderlichen" - sie dürfen nach Art 79(2) GG13 nicht geändert werden. Also erfüllt das Grundgesetz auch den formellen Verfassungsbegriff.

Dass das Grundgesetz als höchste Rechtsnorm innerhalb der Normenhierarchie behandelt wird, ist unstrittig.

Also erfüllt das Grundgesetz den materiellen, formellen und realen Verfassungsbegriff.

Andere Verfassung mit dem Namen "Grundgesetz"

Ein oft gehörtes Argument ist auch, dass es keinen anderen Staat gäbe, dessen Verfassung Grundgesetz heißt. Das ist einfach falsch. Hier ein paar Beispiele.

  • die Verfassung von Dänemark – Grundgesetz Dänemarks (Danmarks Riges Grundlov) von 1953
  • die Verfassung von Estland – Grundgesetz der Republik Estland (Eesti Vabariigi põhiseadus) von 1992
  • die finnische Verfassung (finn. perustuslaki, dt. Grundgesetz) von 2000
  • die Verfassung von Irland – Bunreacht na hÉireann von 1937
  • die niederländische Verfassung – die Grondwet voor het Koninkrijk der Nederlanden von 1814/15
  • die Verfassung des Königreichs Norwegen von 1814
  • die Verfassung des Staates Palästina in der Fassung vom 19. März 2003 heißt Grundgesetz (Basic Law).
  • das Grundgesetz der Ukraine von 1996
  • das Grundgesetz Ungarns – Magyarország Alaptörvénye von 2011
  • die Verfassung des Staates der Vatikanstadt – Grundgesetz des Staates der Vatikanstadt (Legge fondamentale dello Stato della Città del Vaticano) von 2000

Zusammenfassung

Das Grundgesetz erfüllt den materiellen, formellen und realen Verfassungsbegriff. Es ist unsere Verfassung, erfüllt alle Anforderungen an eine Verfassung und trägt lediglich einen anderslautenden Titel: "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland". Die Bundesrepublik Deutschland ist weder der einzige Staat, dessen Verfassung nicht "Verfassung" im Titel trägt noch der einzige Staat dessen Verfassung Grundgesetz heißt.

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